Axel Weidemann

Axel Weidemann

"Wir haben gelernt, nicht immer nur zu senden, sondern auch auf Empfang zu stellen - so lassen sich Dinge ausprobieren."

„Wir haben gelernt, nicht immer nur zu senden, sondern auch auf Empfang zu stellen – so lassen sich Dinge ausprobieren.“

Ich habe viel vergessen. Diese eine Sache nicht. Auf der Unterseite des Klapptisches in einer der hintersten Reihen des gelben Hörsaals im Campus Adolf-Reichwein-Straße stand mit schwarzem Kugelschreiber ins lackierte Holz geritzt: „Wer Siegen kennt, lacht über Vietnam.“ Ich las den Satz in einer der ersten Veranstaltungen des damaligen Medienstudiengangs M-PEB. Heute bin ich nicht sicher, ob ich ihn richtig verstand. Der Satz ist Blödsinn. Deshalb ist er ja so schön. Für Menschen, die noch nicht genau wissen, was sie vom Leben zu erwarten haben, ist diese Stadt im Talkessel der Sieg ein guter Anfang, um selbstständig zu werden; also selbstständig zu denken, frei von eigenen, fremden und ortsgebundenen Erwartungen. Wenn man wie ich keine Ahnung hatte, zu welcher existenzstützenden Tätigkeit man wohl berufen ist, konnte dieses Siegen heißen, bei einem Seminar über das Apollinische und Dionysische in Nietzsches „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, nicht darüber nachzudenken, ob das dort aufgesogene, mühsam gesammelte oder lediglich bestaunte Wissen später zur Profitmaximierung beitragen würde (Meist staunte man ja auch nur).

Was ist aus dieser Zeit geblieben? Offengestanden weder Kittler noch McLuhan (könnte ich aber nachlesen). Geblieben sind lose Zeilen von Gottfried Benn, daran anknüpfende Fragmente von Klaus Theweleit und ein eigentümlich haltbares Wissen über die Geschichte und Entwicklung der spiritistischen Fotografie. Und sonst? Das Wichtigste: Die Menschen die seinerzeit in Siegen zusammengewürfelt wurden, hätten in vielerlei Hinsicht unterschiedlicher nicht sein können. Das führte dazu, dass wir uns in Gesprächen in und außerhalb der Universität nicht ständig die Diskurs-Tür vor den Nase zuschlagen und Sprechverbote erteilen konnten. Sonst wäre nie ein vernünftiges Seminar, geschweige denn langlebige Freundschaften zustande gekommen. Es lässt sich heute leicht behaupten – ich tue es trotzdem: Wir haben damals gelernt, nicht immer nur zu senden, sondern auch auf Empfang zu stellen. Wir mussten uns nicht in den gläsernen Rüstungen der Hyperironie und Hypersensibilität verkriechen. In einer solchen Atmosphäre lassen sich Dinge ausprobieren. Texte schreiben zum Beispiel. Es ist dabei viel manierierter Unsinn herausbekommen. Ich bewahre ihn bis heute auf. Ich versuche diesen Unsinn in jedem Text unterzubringen. Deshalb schreibe ich: Wissen nur zu akkumulieren und zu sortieren, um sein Karrierepotential zu maximieren, ist fruchtlos. Die Suche nachdem, was wir noch nicht wissen, schon weniger. Was uns aber, wenn wir viel Glück haben und gewillt sind uns ihnen zuzuwenden, erhebt, sind: Jene Menschen, die uns die Götter über den Weg schicken. Momente und Argumente, die wir mit ihnen teilen, die entschlossene und bauchentschiedene Handreichung im Rausch der Möglichkeiten. Von Dionysus lernen heißt Siegen lernen.